Energiesicherheit ist keine Selbstverständlichkeit mehr und das Risiko einer Energiemangellage bittere Realität. «Die Versäumnisse der letzten zehn Jahre wiegen schwer. Die Weichen für eine sichere, nachhaltige Energieversorgung müssen jetzt gestellt werden», sagt Michael Wider, Präsident des VSE. Die Studie «Energiezukunft 2050», die der VSE in enger Zusammenarbeit mit der Empa durchführte, ist die erste wissenschaftliche Modellierung, die das Gesamtenergiesystem der Schweiz sektorübergreifend bis ins Jahr 2050 simuliert, und dabei auch die umliegenden Länder berücksichtigt.

Die wissenschaftliche Leitung der Studie lag bei den Empa-Forschern Matthias Sulzer und Martin Rüdisüli. Während rund zwei Jahren haben sie mit einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zahlreichen Industriepartnern eine einzigartige Datengrundlage geschaffen, die sowohl sämtliche Energieträger wie auch sämtliche Sektoren umfasst. «Bisherige Arbeiten haben sich meist nur mit Einzelaspekten oder vereinfachten Modellen befasst. Das nun entstandene Modell gibt erstmals einen gesamtheitlichen Überblick über unser Energiesystem», so Sulzer. Ausserdem sei es auch für weiterführende Untersuchungen nutzbar: «Neue Erkenntnisse oder veränderte Rahmenbedingungen können einfach integriert werden».

Die vorliegende Studie zeigt verschiedene Möglichkeiten mitsamt Einschränkungen, Kosten und notwendigen Rahmenbedingungen, wie mit heutiger Technologie die energie- und klimapolitischen Ziele erreicht werden können. Der «Energiezukunft 2050» liegen vier repräsentative Szenarien entlang der zwei Dimensionen «inländische Akzeptanz für neue Energieinfrastruktur» (defensiver vs. offensiver Ausbau) sowie «energiepolitisches Verhältnis zu Europa» (isolierter vs. integrierter Energiemarkt) zugrunde.

Das sind die zwölf wichtigsten Resultate für den Umbau der Energieversorgung bis ins Jahr 2050:

1. Ohne massiv beschleunigten Zubau und massive Steigerung der Effizienz, fokussierten Um- und Ausbau der Netze sowie einem engen Energieaustausch mit Europa erreichen wir die Energie- und Klimaziele nicht.
Die aktuelle Zubaugeschwindigkeit von Photovoltaik (PV) und insb. Windkraft wird nicht ausreichen, um die Energie- und Klimaziele der Schweiz bis 2050 zu erreichen und die Schweiz müsste weiterhin partiell auf fossile Energien abstützen. Mit der aktuellen Zubaugeschwindigkeit von PV der letzten zwei Jahre fehlen bei den defensiven Szenarien bis zu 7 GW oder 20% der notwendigen Solarproduktion. Bei der Windkraft, die zurzeit praktisch gar nicht ausgebaut wird, werden in den offensiven Szenarien bei der heutigen Zubaugeschwindigkeit 2050 rund 1.2 GW fehlen.

2. Der Strombedarf in der Schweiz wird zunehmen.
Der Basisstrombedarf der Schweiz wird bis 2050 aufgrund verbesserter Technologie und Effizienzmassnahmen leicht sinken. Die Substitution von fossilen Energieträgern in den Sektoren Verkehr und Wärme führt trotzdem zu einem stark steigenden Elektrizitätsbedarf von heute 62 TWh auf 80 bis 90 TWh im Jahr 2050. Je nach Szenario entspricht das einem Anstieg von 25-40%. Aufgrund des steigenden Strombedarfs und der sukzessiven Stilllegung der schweizerischen Kernkraftwerke bis 2044 entsteht eine Produktionslücke von 37-47 TWh, die durch den Zubau neuer Anlagen aufgefüllt werden muss.

3. Hohe Akzeptanz für neue Energieinfrastruktur und enge Energiekooperation mit der EU schaffen beste Voraussetzungen für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Energie- und Klimaziele zu den geringsten Kosten.
Insgesamt schafft das Szenario «offensiv-integriert» für die Schweiz die robusteste Energieversorgung. Im «offensiv-integrierten» Szenario sind die jährlichen Systemkosten mit rund 24 Mia. CHF am tiefsten und die Stromimportabhängigkeit im Winter mit rund 7 TWh (19% des Bedarfs Winterhalbjahr) ebenfalls relativ gering. Im Gegensatz dazu betragen die Kosten im Szenario «defensiv-isoliert» rund 28 Mia. CHF und die Importabhängigkeit beim Strom beträgt rund 9 TWh (22% des Bedarfs Winterhalbjahr).

4. Ein umgebautes Energiesystem ist aufgrund der erhöhten Effizienz günstiger als der Status quo.
Dies gilt insbesondere für die offensiven Szenarien. Der Ersatz des heutigen Imports fossiler Brennstoffe durch Elektrizität führt szenarioabhängig zu Reduktionen der jährlichen Systemkosten um 1 bis 5 Mia. CHF. Damit wird die Effizienz erheblich gesteigert, weil Stromanwendungen effizienter sind als Verbrennungsprozesse. Noch nicht berücksichtigt ist dabei der Aus- und Umbau des Stromnetzes.

5. Der Umbau des Energiesystems reduziert die Importabhängigkeit bei der Energie der Schweiz insgesamt um den Faktor 4 bis 6.
Heute liegt die Importabhängigkeit bei 79% von total 259 TWh Primärenergiebedarf. Im Jahr 2050 sinkt dieser Importanteil je nach Szenario auf 30-42% von total 115-132 TWh Primärenergiebedarf, was die absolute Importabhängigkeit um den Faktor 4 bis 6 reduziert. Dies wird durch die Elektrifizierung, welche eine höhere Systemeffizienz bewirkt, die Effizienzsteigerung auf der Nachfrageseite und den Ausbau der inländischen Energieerzeugung möglich.

6. Die Schweiz bleibt Stromimporteurin.
Im Winter muss weiterhin Strom importiert werden. Die Stromimportabhängigkeit im Winter steigt im Szenario «offensiv-integriert» von heute 3 TWh auf 7 TWh, im Szenario «defensiv-isoliert» müssen 9 TWh Winterstrom importiert werden. Die Importproblematik wird sich um das Jahr 2040 zwischenzeitlich verschärfen, weil dann noch keine Wasserstoffinfrastruktur besteht, die Schweizer Kernkraft bereits zum Grossteil vom Netz sein wird, und der Strombedarf durch die fortschreitende Elektrifizierung ansteigt.

7. Klimaneutralität ist nur über eine umfassende Elektrifizierung möglich.
In allen vier Szenarien bedingt die Klimaneutralität den Ersatz fossiler Treib- und Brennstoffe durch Elektrizität, insbesondere im Verkehr und im Wärmebereich. Dadurch kann in allen Szenarien eine Minimierung der inländischen Treibhausgase von heute 35 Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten auf 2.6 bis 3.3 Mio. Tonnen erreicht werden. Um Netto-Null zu erreichen, sind zusätzliche Massnahmen mit dem Einsatz von Negativemissionstechnologien nötig, wie z.B. CO2-Abscheidung in Kehrichtverwertungsanlagen oder direkt aus der Luft (Direct-Air-Capture). Die zusätzlichen Kosten dafür betragen CHF 3 bis 3.5 Mia. pro Jahr und sind in den Systemkosten berücksichtigt.

8. Wasserkraft bleibt die tragende Säule im schweizerischen Energiesystem.
Sie wird in allen Szenarien mit rund 35 TWh die Stromerzeugung dominieren. In den offensiven Szenarien können rund 2 TWh Wasserspeicher zugebaut werden, was die Wintersicherheit des Energiesystems erhöht.

9. Alpine Photovoltaik und Windkraft bringen für die Stromversorgung im Winter wesentliche Vorteile.
Die Erzeugung aus alpinen PV-Freiflächenanlagen beträgt 2050 in den offensiven Szenarien rund 2 TWh, die Windproduktion beträgt rund 3 TWh. Der Stromimport wird durch diese Anlagen reduziert. Sie leisten damit einen substanziellen Beitrag zur Winterstromversorgung.

10. Wasserstoff kann zu einem essenziellen Element der schweizerischen Energieversorgung werden.
Der Import von grünem Wasserstoff über die entstehende europäische Wasserstoffinfrastruktur kann neben Wasserkraft und PV zu einer tragenden Säule der Energieversorgung im Winter werden. Im Szenario «offensiv-integriert» liefern mit Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke rund 13 TWh Elektrizität ganzjährig, davon 9 TWh im Winter, und decken damit rund 20% des Winterbedarfs. Der Zubau neuer Kernkraftwerke wie Small Modular Reactors (SMR) ist unter der Bedingung einer stark ausgebauten Wasserstoff-Infrastruktur in der EU («H2-Backbone EU») nicht wirtschaftlich, weil die mit Wasserstoff betriebenen Gaskraftwerke den Bedarf flexibler und günstiger decken können.

11. Versorgungssicherheit bedingt Backup-Kraftwerke und Speichervorhaltung.
Das zukünftige Energiesystem wird zu einem grossen Teil von wetterabhängiger erneuerbarer Produktion wie PV und Windkraft versorgt. Um unter diesen Bedingungen die Versorgungssicherheit aufrecht erhalten zu können, sind Backup-Kraftwerke und Speichervorhaltungen nötig. Die Kosten dafür betragen rund 1 Mia. CHF pro Jahr und sind in den Systemkosten integriert.

12. Der Umbau des Energiesystems bedingt einen Um- und Ausbau des Stromnetzes.
Die PV wird mit einer Produktion von 18 TWh im Szenario «offensiv-integriert» bis zu 28 TWh im Szenario «defensiv-isoliert» massiv ausgebaut, hauptsächlich dezentral auf Dächern. Zusammen mit der Elektrifizierung des Verkehrs und der Wärmeanwendungen bedingt das einen Netzausbau und -umbau vor allem auf den unteren Netzebenen. Auch der Ausbau der alpinen PV bedingt den Bau von entsprechenden Zuleitungen. Dieser Netzausbau ist in der vorliegenden Studie noch nicht berücksichtigt und wird in einer weiterführenden Studie des VSE im Jahr 2023 untersucht.

Versorgungssicherheit und Klimaneutralität bis 2050 kein Selbstläufer
«Mit der «Energiezukunft 2050» leistet die Branche einen kompetenten und wissenschaftlich fundierten Beitrag in die energiepolitische Diskussion und zur Weiterentwicklung unseres Energiesystems», sagt VSE Direktor Michael Frank. Die Ergebnisse zeigen, dass das Erreichen der Energie- und Klimaziele mitnichten ein Selbstläufer werde, sondern grösste Anstrengungen dafür notwendig sein werden. Weiter wie bisher sei keine Option. Aus Sicht des VSE müsse die Versorgungssicherheit zum nationalen Interesse erklärt und Hürden abgebaut werden, damit Versorgungssicherheit und Klimaneutralität bis 2050 möglich sind.